Bericht in der Ärzte Zeitung, 12.01.2009
BERLIN (eb). Rückenbeschwerden verursachen häufiger Arbeitsunfähigkeit als jede andere Diagnose. Nach neuesten Untersuchungen haben fast fünf Prozent der Bevölkerung Rückenschmerzen mit hoher Beeinträchtigung. Krankengymnastik und Sport statt Schonung ist inzwischen die Devise. Denn Bewegung verbessert nicht nur die Körperkoordination, Gelenkfunktion, Muskelkraft- und Ausdauersteigerung – sondern kann auch zu positiven Verhaltensänderungen führen.
Daran hat Professor Jan Hildebrandt, Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), auf dem 33. Interdisziplinären Forum „Fortschritt und Fortbildung in der Medizin“ der Bundesärztekammer in Berlin erinnert. Allein bei diesen Patienten entstünden jährlich Kosten von durchschnittlich rund 7116 Euro pro Patient. Auch in der Rehabilitationsbehandlung seien Rückenbeschwerden der größte Kostenfaktor.
„Die klassische medizinische Sichtweise stößt bei Rückenbeschwerden an ihre Grenzen“, erklärte Hildebrandt. „Die enorm verbesserten bildgebenden Möglichkeiten können spezifische Erkrankungen und die Ursache von Ischialgien klar darstellen, zum Verständnis von Rückenschmerzen haben sie jedoch nur einen sehr begrenzten Beitrag geliefert.“ Die Fülle an therapeutischen Ansätzen, ob klassisch konservativ, minimal-invasiv oder offen operativ konnte ebenfalls nicht zu einer entscheidenden Verringerung der Krankheitszeit beitragen.
„Entsprechend haben sich bei streng wissenschaftlichen Untersuchungen die meisten Verfahren zur Behandlung akuter und chronischer Rückenschmerzen als nicht effektiv erwiesen“, sagte Hildebrandt. So habe man die Wirksamkeit der meisten Injektionen wie muskuläre Infiltration oder Facettenblockaden, Bettruhe, Korsetts oder Bandagen und auch die von physikalischen Therapieverfahren wie Wärme- und Kälteanwendungen sowie Elektrotherapie, Bäder, Akupunktur und elektrische Nervenstimulation (TENS) bisher noch nicht nachweisen können, heißt es in einer Mitteilung der BÄK. Auch Massage würde kontrovers diskutiert, sei aber allenfalls ebenso wie Chirotherapie nur schwach und nur in Kombination mit anderen Maßnahmen wirksam, so Hildebrandt.
Inzwischen setze sich jedoch in Deutschland allmählich ein Paradigmenwechsel in der Behandlung bei Rückenschmerzen durch, bei dem frühzeitige Aktivität und körperliche Belastung zur Verhinderung einer Chronifizierung ebenso wichtig seien wie die rechtzeitige Erkennung psychosozialer Belastungsfaktoren.
„Dabei muss eine alltagstaugliche Rückenbelastbarkeit angestrebt werden, verbunden mit einer vermehrten Patientenkompetenz und einer sich daraus ableitenden verminderten Inanspruchnahme des medizinischen Systems. Die Patienten müssen dabei – unter kontrollierten Bedingungen – die Erfahrung machen, dass Bewegung und Belastung ihnen nicht schaden, sondern im Gegenteil zur Aufrechterhaltung des gesamten körperlichen Systems notwendig sind“, betonte der Experte.
Ein sport- oder krankengymnastisches Training könne auf diese Weise – neben den primären Zielen der Verbesserung der Körperkoordination, Gelenkfunktion, Muskelkraft- und Ausdauersteigerung – auch zu positiven Verhaltensänderungen führen. Darüber hinaus werde ein weiterer Effekt durch die Stabilisierung und Kräftigung der für die Biomechanik wichtigen Anteile der Rumpfmuskulatur erreicht. „Allerdings ist dieses therapeutische Vorgehen bei chronifizierten Schmerzen nicht billig zu haben und wird derzeit von den Krankenkassen kaum bezahlt“, kritisierte Hildebrandt.