Das Gehirn kennt keine Löschtaste

(4./5. Februar 2006 Süddeutsche Zeitung Seite 10 Dokumentation)

so titelt die Süddeutsche Zeitung einen Bericht über ihr Gesundheitsforum zum Thema „Schmerz und Schmerztherapie – eine interdisziplinäre Herausforderung“. Es diskutierten Hirnforscher, Psychosomatiker, Psychologen, Experten aus anderen Fachrichtungen und Vertreter von Krankenkassen, wie den geplagten Patienten das Leben leichter gemacht werden kann und wie die Patienten sich gegenseitig unterstützen können.

Das Gehirn vergisst Schmerzen nicht, aber durch das richtige Training lässt es sich überlisten. Wenn der Schmerz immer wieder kommt, kann er chronisch werden. Dann bringt die Beseitigung der Schmerzursache keine Linderung, denn das Gehirn erinnert sich an die Schmerzsignale – der Schmerz verselbständigt sich, wird chronisch.

Ein immer wieder von Schmerzen gepeinigter Mensch verändert sich. Wer unter chronischen Schmerzen leidet, erwartet dass sich die Schmerzen jederzeit verstärkt melden. Durch diese Erwartungshaltung werden die Schmerzen stärker empfunden, als ein nicht angekündigter Schmerz, denn schon die Erwartung aktiviert Hirnregionen die den Schmerz verarbeiten. Dabei spielt es keine Rolle ob der Schmerz von einer äußeren Einwirkung auf den Körper oder durch ein seelisches Ereignis, wie Probleme am Arbeitsplatz, in der Beziehung, durch Angst oder Trauer, ausgelöst wird.

Im Gehirn wird der Schmerz, wie auch die Emotionen in einer Region, dem limbischen System verarbeitet und dadurch kann schon ein Gefühl den eingeprägten Schmerz aktivieren. Auszug aus dem Artikel: Der Hirnforscher Thomas Tölle erzählt als Beispiel: „Angenommen Ihr Chef ruft Sie ins Büro und sagt Ihnen, dass er mit Ihrer Arbeit nicht zufrieden ist. Sie bekommen daraufhin Rückenschmerzen. Wenn Sie danach Ihren Chef nur sehen, kommt der Schmerz wieder. Und bald reicht es schon aus, wenn nur jemand den Namen des Vorgesetzten erwähnt.“

Das Gehirn vergisst den Schmerz nicht und je länger ein Patient unter chronischen Schmerzen leidet, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder schmerzfrei wird, sagt der Mediziner Hans-Raimund Casser.

Aus diesen Zusammenhängen kann jeder Laie nachvollziehen, wie Komplex die Behandlung eines Menschen mit chronischen Schmerzen ist. Nur wenn der behandelnde Arzt frühzeitig die Alarmsignale einer Chronifizierung erkennt, kann in Zusammenarbeit mit Medizinern vieler Fachbereiche eine passende Therapie entwickelt werden.

Der betroffene Patient muss aber auch selbst mitarbeiten, damit die Erinnerungen an den Schmerz ausgelöscht werden. Er muss dem Schmerz eine andere Bedeutung geben.

 

Die Experten:

Privatdozentin Dr. Shahnaz C. Azad, Klinikum für Anästhesiologie, Schmerzambulanz, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München-Großhadern

Prof. Dr. med. Wolfgang F. Beyer, Chefarzt Rheumaklinik Bad Füssing, LVA Oberbayern

Prof. Dr. med. Hans-Raimund Casser, Ärztlicher Direktor, DRK-Schmerzzentrum Mainz

Privatdozent Dr. med. Harald Gündel, Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar, München

Dr. Dominik Irnich, Klinik für Anästhesiologie, Schmerzambulanz, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München – Innenstadt

Dr. Helmut Platzer, Direktor der AOK München

Professor Dr. med. Christoph Stein, Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Professor Dr. Andreas Straube, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München – Großhadern

Professor Dr. Dr. Thomas Tölle, Geschäftsführender Oberarzt , Neurologische Klinik und Poliklinik am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München

Professor Dr. med. Josef Zacher, Chefarzt Orthopädie am Helios Klinikum Berlin-Buch

Prof. Dr. Walter Zieglgänsberger, Leiter der Abteilung für Klinische Neuropharmakologie, Max-Planck-Institut für Psychiatrie, München

Professor Dr.-Ing. Dr. med. h.c. Manfred Zimmermann, Heidelberg